ZUM ABSCHIED VON MARLIES VON ORELLI-WENNER (7. Juli 1918 - 3. Oktober 1997) Für den Gedenkgottesdienst am 13. Oktober in der Lukaskirche in Luzern hatte ich einiges aus Mutters Leben aufgeschrieben. Monica und Folker arbeiteten mit Christoph und mir weiter daran und Pfarrer Alfred Kunz, dem wir hier ganz besonders danken für seine trotte. trostreiche und auch herausfordernde Predigt und das Ausarbeiten des ganzen Gottesdienstes, bat uns vier dann, diese Texte in der Kirche vorzulesen.
Hier einige Absëtze aus meinen Notizen. Marianne Spreng Von einem erfüllten leben mit allen seinen "Aufs und Abs" Unsere Mutter, Marlies Hildegard Ella Wenner, kam am 7. Juli 1918 wahrend einer Grippewelle in St. Galien zur Welt. Ihre grosse Schwester beschreibt sie ais ein freundliches, lustiges Kind, das die Natur und die Bewegung liebte. Sie horte die kleine Marlies zu einer Fliege, die auf ihrem Kinderstuhl sass, sagen: "Bitti, bitti liebs Flüügeli, gang jetz do waql" Auch sei sie immer eine Leseratte gewesen, die Bücher geradezu verschlang. Ein unabhançiqer Geist von klein auf, unterhielt sie die Tanzpartner und Verehrer ihrer 9 und 11 Jahre alteren Schwestern im Salon. "Ganz die kleine Dame", meint die Schwester. Ihr Vater, ein Kinderarzt, sei besonders gut mit ihr ausgekommen, habe sie auf Bergtouren mitgenommen, die Jüngste, so Fr6hliche. Ais sie neun war, starb der Vater unerwartet.
Die Familie zog zur Grossmutter an die Dufourstrasse. Sie liebte das Leben im Hauschen auf dem Rosenberg, mit Grossmutter, Mutter und den Schwestern. Es war ein Haushalt, in dem Kunst, vor allem Gesang und Theater eine grosse Rolle spielten. Nach der Realschule und verschiedenen "nützlichen" Kursen wie jenem in "zeitqernasser, gepflegter Küche", den sie "mit gutem Erfolg" abschloss, folgte die Ausbildung für Gymnastik und Heilgymnastik in Berlin und Zürich. Sie arbeitete ais Heilgymnastin in verschiedenen Kliniken, Lazaretten und Spitalern.
lm Kreisspital Rüti schrieb der Chefarzt ins Zeugnis: "zuverlassiq und geschickt und hat gute Umgangsformen". 1943 verlobte sie sich mit dem Zürcher Jus-Studenten Konrad Von Orelli. Es folgte ein bewegtes Leben: 1946 Hochzeit in der Kapelle von Caux, mit Hochzeitswalzer im Ballsaal des ehemaligen Caux-Palace, das sie beide, mit vielen andern, in den Monaten zuvor mit grossem Elan ais Konferenzzentrum instandgesetzt hatten. 1947 kam die Tochter Marianne zur Welt; 1949 folgte Monica. Von 1948 bis 1960 lebte unsere Familie an verschiedenen Adressen in Bern. 2 Unsere Mutter war eine frohliche, sportliche Mutter, die viel mitspielte, oft sang und wunderbar Geschichten erzahlen oder vorlesen konnte. Geduldig ging sie auf unsere tausend Fragen ein und gab es auch unumwunden zu, wenn sie die Antwort nicht wusste. Das Temperament brannte damais bei ihr noch haufiqer durch ais spater. Das Schbne war, dass sie sich bei ihren Mitmenschen, auch bei uns Kindern, aufrichtig entschuldigen konnte, wenn das Gewitter vorbei war.
ln jener Zeit nahm sie an Aktionen der Moralischen Aufrüstung in Nigeria, Skandinavien und England teil. 1960 zogen wir in das kleine Haus "le Castelet" mit den grünen Fensterlèden in Caux. 1965 erfolgte der Umzug nach Luzern. Mutter lebte sich dort gut ein, aber dann 1968 kam ein neuer Abschnitt, der Unerwartetes und Schwieriges brachte: Vater erkrankte an einem seltenen Blutkrebs. 1971, auf der Heimfahrt von einem Krankenhausbesuch, hatte Mutter einen schweren Autounfall mit Verbrennungen, Frakturen und Verletzungen. Es folgten 1% Jahre im Krankenhaus, wo sie wieder atmen, sehen, sprechen, lesen, singen und zu aller Erstaunen wieder gehen lernte. ln den folgenden 20 Jahren war der Lebensrhythmus unserer Eltern von Krankheit und Behinderung qepraqt. Mutters Frbhlichkeit, Energie, Vitalitat und Gastfreundschaft waren sich gleich geblieben, ja ihr Wesen durch das Leid wie qelautert worden
Der Abschied von Vater, der im Juni 1992 starb, war ungeheuer schmerzlich für Mutter, aber wieder gelang es ihr erstaunlich rasch, ein erfülltes Leben aufzubauen. lm Mai 1994 erlitt sie einen Herzinfarkt und einen Aortariss. Dies führte erneut zu Monaten auf der Intensivstation mit anschliessender Rehabilitation in Montana. Wieder hiess es atmen, sitzen, gehen, sprechen, beten und zum Schluss auch noch - diesmal zwar etwas heiser - singen lernen.
1996 erfolgte ihr Umzug ins Wohnlleim Wesem!in, wo sie - nach einigen Tagen harten Kampfes gegen Atemnot und Schmerzen - am 3. Oktober friedlich einschlafen durfte. ln ihrer kleinen, abgegriffenen Taschenbibel fanden wir zahlreiche markierte Bibelstellen. Einige waren dick oder doppelt angestrichen: lm Galaterbrief, Kapitel 5, Vers 22 : "Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freund/ichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Se/bstbeherrschung. n Daran hat Mutter gearbeitet. Ais junge, berufstatige Frau, die früh von zu Hause wegging, mit einer unabhanqiqen, offenen, lebensbejahenden Einstellung, keiner besonderen Beziehung zum christlichen Gott, aber mit grossem Respekt vor der Schbpfung.
Ofter erzahlte sie, wie der junge, eifrige, von ihr geliebte Student Koni von Orelli, ihrer Meinung nach "einfach verrückte Ideen" hatte, mit diesen Oxford-Gruppen-Leuten, "die immer die Bibellesen!" - "Mit so ganz, ganz anderen Anischten ais meine ..." Und doch, ais er sie bat, seine Frau zu werden, wusste sie sofort und sicher, dass sie "ja" sagen wollte. Sie war bereit, sein Leben zu teilen. Aus Liebe wollte sie vestehen, was sein Anliegen und seine Berufung waren. Es brauchte Zeit. Still und ohne viel Getue machte sie sich daran, Gott und Christus kennenzulernen. Auf dieser Suche halfen ihr die vielen Kirchenlieder, die Vater ais Pfarrerssohn kannte und gerne sang.
Obwohl sie wenig davon sprach, half sie auch uns Kindern, einen Zugang zum Glauben zu finden. Ais sie nach dem Unfall aus wochanlanger Bewusstlosigkeit aufwachte, waren es diese Kirchenlieder, nach denen sie verlangte, um wieder Lebensmut zu gewinnen. Weiter strich sie im Kapitel12 des Rômerbriefs die Verse 9,10 und 12 an: "Eure Liebe sei ohne Heuche/ei. Verabscheut das Bose, ha/tet fest am Guten. Seid einander in brüder/icher Liebe zugetan. n 3 Daran hielt sich Mutter. Sie sagte nur das, was für sie wahr und echt geworden war. Sie war bereit, gegen den Strom zu schwimmen, auf einer eigenen Meinung zu beharren (was sie übrigens ausgezeichnet konnte!), zum Beispiel in der Kindererziehung und vielem mehr.
Zum Lernen, dass jeder Mensch seinen Wert hat, wurde intensiv ein Teebesuch einer "këJniglichen Seele" vorbereitet. Ais wir Kinder im Sonntagsstaat am Fenster standen, stürzte MuUer auf eine altere, gute Bekannte der Familie zu, begrüsste sie feierlich und bewirtete mit ail den vorbereiteten Kbstlichkeiten. Auf die Frage:"Wann kommt denn die këJnigliche Seele?", sagte MuUer nur: "Hier ist sie ja!" "Seid einander in brüderliche Liebe zugetan. " Auch dies trachtete MuUer zu befolgen. Sie hat immer ihr Herz gegeben: ihrem Verlobten und spateren Ehemann, besonders wahrend der langen Krankheitsjahre, und vielen, vielen anderen.
Mit ihren alteren Schwestern und deren Familie war sie ebenfalls eng verbunden. Und im Laufe der Jahrzehnte waren die Schwiegereltern und dann die Schwagerinnen mit ihren Familien auch zu viel mehr ais Verwandten, zu echten Freunden geworden. Ein Streitgesprach zu gewinnen, war für sie uninteressant. Eine echte Beziehung aufrechtzuerhalten, trotz Meinungsunterschieden, war ihr ein Anliegen, und es gelang ihr auch oft. So konnten Bekannte und Freunde über Mutter schreiben: "Ihre unerhbrte Tapferkeit, ihre Stimme, das frohe Lachen, Frucht eines herrlichen Sinnes für Humor, ail dies bleibt gegenwartig und stimmt tief dankbar." Ein anderer Brief: "Wie gut erinnere ich mich an ihre Beitraqe in Gruppendiskussionen. Immer waren sie von erfrischender Diesseitigkeit, erqanzt durch Konis phantasievolle Tiefe."
Eine Freundin aus der Verlobungszeit schreibt: "Es war nie etwas Oberftachliches, wenn wir zusammen waren, man konnte sich ihr öffnen ohne Vorbehalt. Ihre Frömmigkeit und Gottnähe hat sich in der Wahrheitsliebe ausgedrückt." Ausserdem durften wir lesen: "ln ihrer unsentimentalen Weise konnte sie mich beraten, nahm mich ernst und war voiler Verstândnis. Sie hatte ein intensives Empfinden fur das Echte." Wir Kinder blicken zurück auf ein Leben, das qepraqt war von ihrem direkten und ehrlichen Glauben, ihrer Bereitschaft, andern Menschen zuzuhören und für sie da zu sein.
Uns Kindern wird immer in Erinnerung bleiben, mit welchem Engagement sie ihre Freude oder ihr Missfallen ausdrücken konnte. Durch ihren Gesichtsausdruck konnte sie ihrem Gegenüber deutlich zu verstehen geben, was sie von ihm und seinen Ideen hielt. Ebenso konnte sie Beziehungen bauen durch das Strahlen ihrer Augen und das herzhafte Lachen. Für dieses erfüllte Leben sind wir ungeheuer dankbar.
Nun noch ein Wort zu ihren letzten anderthalb Jahren im Wohnheim Wasmeli, die ein Kapitel für sich geworden sind: ln diesen letzten Monaten kam vieles direkt und ungeschminkt, oh ne den Filter der Hoflichkeit heraus; wenn die Schmerzen zu arg waren, sagte sie laut und für aile horbar: "Mischt!" und fügte einmal bei: "Cheibe Mischt, und das dorf de HerrgoU ruehig au ghëJre."Aber auch ihre Dankbarkeit drückte sie aus. "Ich bi richtig guet ufghobe do. Si lueged eim eso guet." Sie freute sich sehr über die grossen alten Tannen vor ihrem Fenster mit ail den vielen kleinen VëJgeln. Sogar mit den Katzen freundete sie sich auf ihre alten Tage an und meinte: "Weisch, rne-n-isch nie z'alt zum oppis leere!"
Ais das Atmen schwieriger wurde, beteten wir bei Besuchen automatisch beim gemeinsamen "Unser Vater " etwas leiser. "Me ghört jo gar nüt, bätt düütlich!" protestierte sie dann. Auch wenn ihre Energie nicht ausreichte, um alles mitzusprechen, kam ihr "Amen" meistens laut und deutlich. Wieviel sie ganz am Schluss von den Versen hörte, die wir an ihrem Bett vorlasen und sangen, wie oft sie innerlich zu Gott rief, wissen wir nicht. Am Abend des 3. Oktober, nachdem ich ihr liebstes Abendlied: "Herr bleibe bei uns" gesungen hatte, fuhr ich fort mit "0 wie wohl isi mir am Abend'. Beim letzten "Bim ...- bam ..." tat sie einen grossen Seufzer, neigte den Kopf zur Seite und schlief für immer ein, kurz bevor das Glëggli des benachbarten Kapuzinerklosters den Abend einlautete
. Zum Schluss des Gedenkgottesdienstes sangen wir alle das Lied: "Sa nimm denn meine Hände", nach dem sie var allem in letzter Zeit öfters verlangt hatte. Sa nimm denn meine Hände und führe mich, bis an mein selig Ende und ewiglich, ich kann allein nicht gehen, nicht einen Schritt; wo Du wirst geh'n und stehen, da nimm mich mit. * ln Dein Erbarmen hülle mein schwaches Herz, und mach es gänzlich stille in Freud und Schmerz, lass ruhn zu Deinen Füssen Dein armes Kind, es will die Augen schliessen und glauben blind. * Wenn ich auch gleich nichts fühle von Deiner Macht, Du führst mich doch zum Ziele, auch durch die Nacht, so nimm denn meine Hände und führe mich, bis an mein selig Ende und ewiglich.
Ende November 1997 Liebe Freunde, Viele von Ihnen haben unsere Mutter gekannt. Mir sind zwei Dinge wichtig: Für unsere Mutter - und natürlich auch Vater - bin
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